Besiedlungsgeschichte der Tschadseeregion, Nigeria

Einleitung

Die Besiedlungsgeschichte der letzten 4000 Jahre stand im Mittelpunkt der Forschungen in der Tschadseeregion, in Nordost-Nigeria. Sie umfasst die Einwanderung pastoraler Gruppen, erste sesshafte Bauern, komplexe Gesellschaften frühgeschichtlicher Zeit und Metropolen historischer Königreiche. Abgesehen von der Einwanderung der pastoralen Gruppen am Beginn der Abfolge, verweisen die archäologischen Quellen auf eine überwiegend autochthone Entwicklung ohne tief greifende externe Beeinflussung. Grundlegende Neuerungen vollziehen sich eigentlich nur in der zweiten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrtausends, mit dem Auftreten der Roulette-verzierten Keramik und der Eisentechnologie, einer Umgestaltung des Siedlungswesens und damit einhergehenden sozialen Veränderungen. Offen bleibt, ob der abrupt erscheinende Wandel auf die Einwanderung von Ideen oder Menschen oder auf bodenständige Entwicklung zurückzuführen ist.

Frühes und Mittleres Holozän

Die holozäne Besiedlung des Tschadbeckens ist geprägt von einem umweltgeschichtlichen Ereignis einzigartiger Dimension. Im frühen und mittleren Holozän, ab ca. 10.000 Jahren vor heute, stieg der Wasserspiegel des Tschadsees zeitweise etwa 40 m über sein heutiges Niveau. In der flachen Beckenlandschaft führte dies zur Entstehung eines der damals größten Binnengewässer der Erde, das fast die Größe der heutigen Kaspischen See erreichte. Zu den seltenen Spuren des Menschen in dieser wasserreichen Welt gehört der Einbaum von Dufuna, gefunden unweit des damaligen Seerandes. Mit etwa 8000 Jahren ist es das älteste bekannte Wasserfahrzeug Afrikas. Etwa ein Jahrtausend jünger sind einige Keramikscherben vom ehemaligen Strandwall des Mega-Tschadsees bei Konduga. Sie verkörpern einen frühen Keramikhorizont in Westafrika, dessen Wurzeln aber noch viel weiter zurückreichen (e.g. Ounjougou/Mali).

Die ersten Rindernomaden und Bauern (Gajiganna Komplex)

Im Spätholozän gingen die Wasserstände des Tschadsees zurück. Gleichzeitig begann die erste umfassende Besiedlung der Region durch den Menschen, zumindest sind Spuren früherer Besiedlung – von Dufuna und Konduga abgesehen – archäologisch nicht entdeckt worden. Rindernomaden wanderten im frühen zweiten Jahrtausend v. Chr. aus der südlichen Zentralsahara ein (Gajiganna Komplex Phase 1). Sehr wahrscheinlich hatte die verschärfte Trockenheit sie von dort vertrieben. Sie siedelten in einer Landschaft, die zuvor der Boden des Mega-Tschadsees gebildet hatte und nun aus vermutlich ganzjährig bestehenden Gewässern und Weidegründen bestand. Entsprechend der Mobilität von Nomaden hinterließen sie kleine Camps mit relativ wenig Fundmaterial.

An ihre Stelle treten etwa von der Mitte des zweiten Jahrtausends v. Chr. Siedlungshügel, die durch länger andauernde Akkumulation vieler Hinterlassenschaften des Menschen entstehen. Sie zeigen Sesshaftigkeit an, die in der Regel erst möglich wird mit ausreichender Verfügbarkeit oder Produktion von Nahrung. Hier war es die Perlhirse, die als erste Kulturpflanze, die Produktion pflanzlicher Nahrung erlaubte. Haustiere, Jagdbeute und gesammelte Wildpflanzen bildeten aber weiterhin wichtige Nahrungsquellen. Es handelt sich also um eine agropastorale Phase - im Gegensatz zur rein pastoralen Phase davor (Gajiganna Komplex Phase 2a/b). Die Siedlungshügel bedecken kaum mehr als 3 Hektar Fläche. Vermutlich standen dort ehemals nicht viel mehr als eine Handvoll aus Lehm gebauter Hütten, in denen – aber das ist eine schwer beweisbare Vermutung – ein einziger familiärer Verband lebte.

Im anschließenden frühen ersten Jahrtausend v. Chr. gerieten die Gemeinschaften in eine Krise. Die Fundstellen dieser Zeit bestehen nur noch aus einer Ansammlung weniger Funde in flachem Gelände und erreichen bei weitem nicht mehr die Größe der Siedlungshügel (Gajiganna Komplex Phase 2c). Diese Situation deutet auf eine höhere Mobilität hin, über deren Gründe nur spekuliert werden kann. Ab etwa 1000 v. Chr. ist zudem die Einwanderung in die südöstlich gelegenen, zuvor noch überfluteten Tonebenen belegt.

Neuerungen in der Mitte des ersten Jahrtausends v. Chr.

Den nächsten besiedlungsgeschichtlichen Einschnitt bildet das Auftreten großer und in einigen Fällen befestigter Siedlungen ab 500 v. Chr. (Gajiganna Komplex Phase 3). Mit bis zu zwölf (Zilum und Maibe), oder sogar über 30 Hektar (wie Malankari), sind diese Fundstellen erheblich größerer als die vorangegangener Zeiten. Befunde, Gräber und Fundmengen deuten auf mehrere Tausend Menschen umfassende Einwohnerschaften hin. Eine solch große Ansammlung an Menschen existierte zuvor im Afrika südlich der Sahara nirgendwo. Vielleicht war Bevölkerungswachstum die Ursache, denkbar ist aber auch, dass die zuvor ländlich siedelnde Bevölkerung nun in einigen zentralen Siedlungskomplexen zusammenkam.

Neben dem tief greifenden Wandel des Siedlungswesens erfolgte eine Intensivierung der Landwirtschaft. Mischkulturen von Getreiden und Hülsenfrüchten, sowie neue Anbaupflanzen minderten das Risiko von Fehlernten und führten zu Ertragssteigerungen, die sich auch in der Anlage von Vorratsspeichern äußerten. Soziale Veränderungen begleiteten diese Entwicklungen. Die handwerkliche Spezialisierung ist am deutlichsten im Aufkommen der Eisenmetallurgie zu erkennen. Spezialisierung stand auch hinter der organisierten Beschaffung von fehlenden Ressourcen wie Stein, der im Tschadbecken nicht vorkommt. Um 500 v. Chr. stellt sich ein Wandel im Verteilungsnetz ein, den wir heute als Homogenisierung des Marktes bezeichnen würden. Wir vermuten dahinter die Zunahme der wirtschaftlichen Macht von Händlern, denn nur wenige Jahrhunderte später begegnet uns Fernhandel in transsaharischer Dimension. Ausdruck sozialer Differenzierung ist zudem die Organisation umfangreicher kommunaler Arbeiten. Hierzu gehört der Bau mehrere Meter tiefer und breiter, bis einen Kilometer langer Gräben, deren Konstruktion durch Personen mit Macht angeordnet und koordiniert worden sein muss. Die Funktion der geomagnetisch prospektierten Gräben ist unbekannt, doch spricht die Dimension für einen fortifikatorischen Zweck.

Der vielfältige Wandel, der um die Mitte des 1. Jahrtausends v. Chr. einsetzt, verkörpert den Beginn einer zunehmend komplexeren Welt. Die Untersuchung von Fundstellen aus dem nachfolgenden 1. Jahrtausend n. Chr. hat gezeigt, dass sich einige der Entwicklungen bis dahin fortsetzen. Mit Gräben umgebene, befestigte Großsiedlungen existieren weiter und erreichen Größen von bis zu 50 Hektar. Besonders gut untersucht ist die ca. 25-35 Hektar große Siedlung Dorota. Im Prinzip setzten sich die befestigten Siedlungen bis zu den historischen Metropolen des Reiches Kanem-Bornu fort.

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Publikationen

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Breunig, P., Eichhorn, B., Kahlheber, S., Linseele, V., Magnavita, C., Neumann, K., Posselt, M. & Rupp, N. (2006): G(l)anz ohne Eisen: Große Siedlungen aus der Mitte des ersten Jahrtausends BC im Tschadbecken von Nordost-Nigeria. In: Wotzka, H.-P. (ed.), Grundlegungen. Beiträge zur europäischen und afrikanischen Archäologie für Manfred K.H. Eggert. Narr Francke Attempto, Tübingen, pp. 255-270. pdf

Breunig, P., Franke, G. & Nüsse, M. (2008): Early sculptural traditions in West Africa: new evidence from the Chad Basin of North-eastern Nigeria. Antiquity 82: 423-437.

Klee, M., Zach, B. & Neumann, K. (2000): Four thousand years of plant exploitation in the Chad Basin of northeast Nigeria: The archaeobotany of Kursakata. Vegetation History and Archaeobotany 9: 223-237

Magnavita, C., Breunig, P., Ishaya, D. & Adebayo, O. (2009): Iron Age beginnings at the southwestern margins of Lake Chad. Crossroads / Carrefour Sahel. Cultural and technological developments in first millennium BC / AD West Africa - Monograph Series Volume 2
by S. Magnavita, L. Koté, P. Breunig & O.A. Idé (eds.). Africa Magna Verlag, Frankfurt a.M., 274 pp., 150 figures (32 in color), 17 tables.

Magnavita, C. 2004: Zilum - towards the emergence of socio-political complexity in the Lake Chad region. In: Krings, M. & E. Platte (eds.): Living with the lake: perspectives on culture, economy and history of Lake Chad. - Studien zur Kulturkunde 121: 73-100. Köln (Köppe)

Dissertationen

Magnavita, C. (2003): Studien zur endsteinzeitlichen und früheisenzeitlichen Besiedlung im südwestlichen Tschadbecken (1300 BC - 700 AD). Doktorarbeit. Goethe-Universität, Frankfurt am Main. http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/volltexte/2008/5250/

Rupp, N. (2004): Land ohne Steine. Die Rohmaterialversorgung im nigerianischen Tschadbecken - von der Endsteinzeit bis zur Eisenzeit. Doktorarbeit. Goethe-Universität, Frankfurt am Main. http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/volltexte/2005/2355/

Wendt, K.P. (1997): Beiträge zur Entwicklung der prähistorischen Keramik des inneren Tschadbeckens in Nordost-Nigeria. Doktorarbeit. Goethe-Universität, Frankfurt am Main.

Wiesmüller, B. (2001): Die Entwicklung der Keramik von 3000 BP bis zur Gegenwart in den Tonebenen südlich des Tschadsees. Doktorarbeit. Goethe-Universität, Frankfurt am Main. http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/volltexte/2003/337/

Magisterarbeiten/Diplomarbeiten

Bigga, G. (2008): Archäobotanische Untersuchung von Frucht- und Samenfunden aus der Fundstelle Mege (Nordost-Nigeria). Magisterarbeit. Eberhard Karls Universität, Tübingen.

Franke, G. (2007): Malankari - eine früheisenzeitliche Großsiedlung im Tschadbecken von Nordost-Nigeria. Magisterarbeit. Goethe-Universität, Frankfurt am Main.

Kottusch, R. (2000): Die Knochenartefakte der endsteinzeitlichen Gajigana-Kultur Nordost-Nigerias. Magisterarbeit. Goethe-Universität, Frankfurt am Main.

Magnavita, C. (1999): Eine späteisenzeitliche und historische Keramiksequenz in Nordost Nigeria. Magisterarbeit. Goethe-Universität, Frankfurt am Main.

Nagel, K.-P. (2009): Tutumbaye, die östlichste Fundstelle der Gajiganna Kultur Nordost Nigerias. Magisterarbeit. Goethe-Universität, Frankfurt am Main.

Rupp, N. (2000): Studien zu den Rohmaterialien der Gajiganna Kultur, Nordost-Nigeria/Westafrika. Magisterarbeit. Goethe-Universität, Frankfurt am Main.